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26 Jahre Kunstbulletin:
Ein Gespräch mit Claudia Jolles

Wie sie ihren letzten Tag in der Redaktion verbringt, konnte mir die langjährige Chefredakteurin Claudia Jolles nicht sagen. Aber sie teilte eine Angewohnheit aus ihren «sportlicheren Tagen als Berggängerin» mit mir: «Sich ordentlich verabschieden ist wichtig, denn man weiss nie, ob man in eine Spalte fällt.»

Gruppenbild der Redaktion der Zeitschrift Kunstbulletin und der Leitung vom Schweizer Kunstverein, fotografiert am Montag (16.05.2022) im Redaktionsbüro vom Kunstbulletin in Zürich. vlnr: Claudia Steffens, Deborah Keller, Marianne Reusser (Geschäftsführerin Schweizer Kunstverein), Claudia Jolles (Chefredaktorin Kunstbulletin), Ariane Roth, Jean-Pierre Hoby (Präsident Schweizer Kunstverein) Der Schweizer Kunstverein ist Herausgeber der Zeitschrift Kunstbulletin. Die Redaktion Kunstbulletin publiziert die gedruckte Zeitschrift Kunstbulletin und betreibt die Webseite artlog.net sowie die App artlist.

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Liebe Claudia, artlog.net besteht seit 1998 als Online-Archiv und leistete mit dem Sammeln digitaler Daten Pionierarbeit. Kannst du dich noch erinnern, auf welchen Rechnern ihr damals gearbeitet habt und wie lange es brauchte, ein hochauflösendes Bild in die Datenbank zu laden?

Die Auflösung der Bilder war ein wichtiges Thema, wir wollten nicht, dass die Seite durch zu hoch aufgelöste Bilder langsam wird. Wer wissen will, was damals der digitale Standard war, kann einfach auf unserer Seite durchs Archiv klicken und dort eine Ausgabe von 1998 aufrufen, bspw. die erste Titelgeschichte (europaweit!) zu Olafur Eliasson. Olafur ist auf dem verpixelten Bild kaum zu erkennen, doch auch in unscharfer Auflösung wirkt er ganz jugendfrisch.

 

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Seitdem hat sich unsere Welt bis heute selten so schnell weitergedreht. Was hat sich in dieser Zeit digital und analog bei Kunstbulletin getan?

Wir planen und erneuern uns rollend. 1998 waren wir die erste Zeitschrift mit einem digitalen Archiv. Wir wurden deshalb auch zu einem Treffen von internationalen Künstlerdatenbanken eingeladen, bei denen es um den Aufbau eines gemeinsamen Tesaurus ging. Daraus wurde dann das Netzwerk european-art.net gegründet, bei dem wir als Gründungspartner immer noch im Strategie-Ausschuss sind. Vernetzung war und ist immer ein zentrales Thema und auch bei jedem Online-Projekt eine Herausforderung. Unsere Relationale Datenbank ist darauf angelegt, dass unterschiedliche Nutzer:innen unterschiedliche Zugänge haben. Die Website wird im Moment nochmals umgebaut und soll Ende Jahr gelaunched werden. 2020/2021 realisierten wir zudem die Web App artlist.net, für die wir dann – nebst millionenschweren Unternehmen wie Migros, Swisscom, Flughafen Zürich – für den best of swiss web award nominiert und dann – juhuuu – im Segment creation mit Gold prämiert wurden. Die Lesegewohnheiten und der Medienkonsum haben sich radikal verändert. Drum arbeiten wir auch an Konzepten, wie wir auf das Bedürfnis auf schnelle Information mit einem dynamischen wöchentlichen eJournal reagieren könnten. Das ist nicht nur eine technische und journalistische sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Wie können wir für einen dynamischen Online-Journalismus eine gute Trägerschaft aufbauen?

 

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Magazin, Zeitschrift, Portal, Plattform, etc.: Wie positioniert sich Kunstbulletin und artlog.net heute?

Wir sind die meistgelesene Zeitschrift für zeitgenössische Kunst in der Schweiz und wollen diese Position auch auf digitaler Ebene ausbauen. Damit schliessen wir eine mediale Lücke, denn mit dem Schwinden der Kunstkritik in den Tageszeitungen verliert auch das zeitgenössische Kunstgeschehen ein wichtiges Fenster in die Öffentlichkeit. Kunst braucht Sichtbarkeit und trägt zu einem steten Wertediskurs in unserer Gesellschaft bei, dafür wollen wir uns auf allen Kanälen einsetzen.

 

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Wenn du an eure Redaktionssitzungen denkst: Was wirst du am meisten vermissen?

Den Austausch mit dem Team, den Autorinnen und Autoren und all den weiteren Beteiligten. Es sind endlos viele Mikroentscheidungen, die täglich getroffen werden, bis schlussendlich das Heft auf dem Tisch liegt. Das ist ein kreativer kollektiver Prozess, an dem sehr viele beteiligt sind. Eine Zeitschrift zu realisieren, ist wie eine Ausstellung zu gestalten, es geht ums Sichten und Gewichten der Inhalte, um die Absprachen mit den Autor:innen, um die Textredaktion und die Auswahl der Bilder. Diesen Prozess zu moderieren, der dann einmal im Monat zu einem Heft führt, ist ein grosses Privileg und eine Verantwortung.

 

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Wie verliert man nie den neugierigen Blick auf neue Ausstellungen?  

Neugierde lässt sich wecken und nähren, beispielsweise durch Zeitungen und Zeitschriften. Ich bleibe dem Kunstbulletin als Leserin und als gelegentliche Autorin treu und werde dort auch weiterhin nach Ausstellungen und Events Ausschau halten, die ich mir gerne ansehen werde. Dafür ist das Heft ja da.

 

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Online-Archive spriessen in den letzten Jahren regelrecht aus dem Boden und haben mit Corona einen zusätzlichen Aufwind erhalten. Wie aber sammeln und archivieren wir wohl in zehn Jahren Kunst?

Das ist ein komplexes Thema und war auch die Fragestellung beim letzten Jahrestreffen von european-art.net, einem grossen Netzwerk von digitale Kunstarchiven. Das Treffen fand in Kassel im Rahmen der documenta statt, Gastgeber war das documenta-Archiv. Anders als früher, als Archive meist «post festum» gedacht waren, müssen Archive heute viel enger ans laufende Geschehen geknüpft werden. Wie das konkret geschehen soll, ohne alle Beteiligten zu überfordern, ist wohl für jedes Archiv heute eine Herausforderung.

 

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Was wünscht du dir für das Kunst-Bulletin in der Zukunft?

Viele Leserinnen und Leser sowie Anzeigenkunden, die dem Heft die Treue halten. Wer sich in diesem Jahr sogar zu einem Gönner-Abo aufschwingt, wird es nicht bereuen. Zilla Leutenegger hat mit dem Steindrucker Thomi Wolfensberger soeben eine berückend schöne Gönneredition realisiert – eine Frau, die mit umgehängter Tasche selbstbewusst unter einem hell leuchtenden Mond durch die Nacht schreitet. Ja, so soll es auch mit dem Kunstbulletin weitergehen. Beherzten Schrittes voran, auch wenn nicht immer klar sichtbar ist, was die Zukunft bringt.

 

Claudia Jolles war bis 2022 Chefredakteurin des Kunstbulletin, der meistgelesenen Schweizer Zeitschrift für zeitgenössische Kunst. 26 Jahre lang entwickelte sie sowohl die Zeitschrift als auch das digitale Rechercheportal artlog.net stetig weiter. Heute zählt artlog.net 1.000 Besucher:innen pro Tag. Seit diesem Jahr ergänzt artlist.net als App die beiden Medien. Claudia Jolles Pre-Kunstbulletin-Zeit galt 1985 der Mitarbeit bei Ilja Kabakows Ausstellung »On the Margin« in der Kunsthalle Bern. Ab 1989 arbeitete sie als freischaffende Kuratorin und Kunstkritikerin. Die in Wien geborene Kunsthistorikerin ist uns immer ein sehr gern gesehener Gast in Thun gewesen und bleibt es hoffentlich weiterhin.