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Susann Wintsch zur Ausstellung «The Other Kabul»

Die internationale Gruppenausstellung The Other Kabul. Remains of the Garden im Kunstmuseum Thun setzt den Fokus auf das Thema Gärten und ihre Bedeutungsebenen in der Gesellschaft. Die Stadt Kabul, deren Gärten berühmt waren und bis heute eine wichtige gesellschaftliche Funktion einnehmen, ist heute wieder Zeuge von politischen Konflikten und Umwälzungen durch die Machtverschiebungen im Land. Afghanische und nichtafghanische Künstler:innen präsentieren in der Ausstellung ihre Wahrnehmung über ein anderes Kabul und reflektieren in ihren Arbeiten das Leben und seine Herausforderungen.

Almagul Menlibayeva, Vor der Sonnenfinsternis IX, 2018, Inkjet Print auf Archivpapier, 87 x 123 cm, Courtesy die Künstlerin und American-Eurasian Art Advisors

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Liebe Susann, als du mich vor drei Jahren in dein Ausstellungsprojekt eingeweiht hast, war die politische Situation in Afghanistan eine andere als heute. Deine geplante Reise nach Kabul musstest du verschieben und alle Atelierbesuche digital durchführen. Viele der in Kabul ansässigen Kunstschaffenden mussten August 2021 nach der Machtübernahme durch die Taliban aus politischen Gründen fliehen. Hat sich das Projekt, im Hinblick auf die veränderte politische Situation, im Lauf der Zeit auch verändert? Und was hat dich grundsätzlich zu diesem grossen internationalen Ausstellungsprojekt motiviert?

Die Hauptlinien dieser Ausstellung habe ich zusammen mit der Künstlerin Jeanno Gaussi entwickelt, die in Afghanistan geboren wurde, in Indien aufwuchs und heute in Berlin lebt. Die Ausstellung sollte «The Other Kabul» heissen, damit wir die Künstler:innen, die damals noch in Kabul lebten, nicht zwingen, das Kabul der Gegenwart zu erklären und sich mit Krieg, Armut, Depression, Unfreiheit und später auch mit Flucht und Migration auseinandersetzen zu müssen. Heute lebt keine:r von ihnen mehr in Kabul. Mit Bestimmtheit aber, wollte niemand von ihnen Afghanistan für immer verlassen. Jedes Leben in jedem Land hat Schönes und Wertvolles zu bieten. Und dies wollen die neu entstandenen Werke sichtbar machen, ohne dabei die (heute weltweit wütenden) Krisen auszublenden. Von diesen erzählen auch die Werke der Künstler:innen, die in der Schweiz, in Frankreich oder in den Niederlanden geboren wurden und die dort leben und arbeiten. Auf diese Weise wird Afghanistan nicht exotisiert. Vielmehr lotet das Land Gemeinsamkeiten mit dem Rest der Welt aus. Auch nach der Machtergreifung der Taliban im August 2021 hat sich dieses Konzept nicht verändert. Wir glauben sogar, dass unsere Grundidee seither noch weiter an Kraft und Bedeutung gewonnen hat.

 

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Du hast im Jahr 2003 das DVD-Magazin COMPILER als Forschungsprojekt initiiert und ab 2005 mit TREIBSAND Contemporary Art Space on DVD für aktuelle Strömungen in der Kunst Westasiens weiterentwickelt. Seit 2016 verlegst du TREIBSAND auf einer Webseite. Du gibst damit den Künstler:innen eine Plattform und den notwendigen Echo-Raum.
Was hat dich dazu bewogen, diesen Fokus zu wählen?

Vielleicht ist es einfach so, dass manche Türen offenstehen und, dass der Entscheid, durch sie hindurchzugehen, im Nachhinein wie eine geplante Bewegung wirkt. Anfang 2000 war ich jedoch nur neugierig, was sich ausserhalb der Gegenwartskunst Europas abspielt und wie ich diese künstlerischen Positionen in die Schweiz bringen kann. Heute bin ich Teil eines grossen Netzwerks in der zeitgenössischen Kunst aus islamisch geprägten Ländern und jede Vertiefung mit einer anderen Ausstellung macht dies noch vielschichtiger und interessanter. Ich mag Kunst, die erzählt und doch fabuliert, die dokumentiert und zugleich träumt. Ich weiss nicht, ob sie in Westasien häufiger auftritt. Aber ich finde sie dort.

 

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Die Ausstellung nimmt an einer brisanten Thematik teil und zeigt Positionen in der Schweiz teilweise erstmalig.
Was erhoffst du, mit der Ausstellung im Kunstmuseum Thun zu bewirken?

Ich möchte lediglich zeigen, dass hochwertige zeitgenössische Kunst heute überall entstehen kann, selbst im hintersten Winkel Afghanistans oder vielleicht sogar dort, wo ich aufgewachsen bin, einem seltsamen Dorf von Swimmingpool-Besitzer:innen. In der Ausstellung «The Other Kabul» sind alle Werke in einer intensiven Auseinandersetzung mit der internationalen Kunst entstanden. Sie werfen einen Blick auf den Zeitgeist und befassen sich zugleich mit der Geschichte der Kunst Europas und Asiens. Die in Thun gezeigten Werke berühren äusserst unterschiedliche Phänomene dieser Welt, die wir gemeinsam bewohnen. In diese extrem offene Sicht darauf, was wir alle noch tun können, sind jetzt auch künstlerische Positionen aus Afghanistan integriert.

 

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Jeanno Gaussi, No Language, 2016/2022 Installation, diverse Materialien, Masse variabel, Courtesy die Künstlerin
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Shahida Shaygan, The Doll Project, 2021/2022 ,100 Objekte, verschiedene Materialien, Masse variabel. Im Auftrag des Vereins Treibsand, Courtesy die Künstlerin
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Shahida Shaygan, The Doll Project, 2021/2022 ,100 Objekte, verschiedene Materialien, Masse variabel. Im Auftrag des Vereins Treibsand, Courtesy die Künstlerin
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Yerbossyn Meldibekov, Transformer, 2013, Holz, Masse variabel, Edition 4/5, Courtesy der Künstler und Nina Due Gallery, Mailand

Susann Wintsch studierte Kunstgeschichte und Komparatistik. Sie arbeitet als Kuratorin mit einem besonderen Interesse an Gegenwartskunst aus Westasien. Ihre Ausstellungen konzipiert sie in Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und realisiert sie als umfangreiche Kollaborationen auf DVD sowie in Zusammenarbeit etwa mit dem Museum Rietberg, dem Forum Schlossplatz dem Bündner Kunstmuseum. Seit ihrer Zeit als Kuratorin eines Arboretums in Wädenswil, in dem hunderte exotische Bäume wachsen, erkundet sie die Verbindung zwischen Gegenwartskunst und Garten.

TREIBSAND – Contemporary Art in Western Asia and Beyond