(HI)STORY
(Hi)story präsentiert Arbeiten von vier internationalen Künstlerinnen und Künstlern, die in ihrem Werk Gedanken rund um das Thema kollektives Gedächtnis und/oder persönliche Erinnerung aufgreifen, ergründen und analysieren. Um Verallgemeinerungen zu vermeiden, konzentriert sich die Ausstellung auf Künstlerinnen und Künstler, die auf sehr viszerale Weise ein Gespür für den Ort vermitteln, Künstlerinnen und Künstler mit dem Bedürfnis, sich mit ihrer Herkunft und ihrem persönlichen Kontext (obgleich durch Archetypen gefiltert) auseinander zu setzen, die den Wunsch verspüren, ihre Antworten in eine verständliche Form zu übertragen und den Betrachter auf mehreren Ebenen anzusprechen. Bei allen beteiligten Künstlerinnen und Künstlern stellt die Art, wie sie das von ihnen gewählte Medium verwenden und auf die Probe stellen, einen kritischen und integralen Aspekt des behandelten Gegenstands dar.
Seit Mitte der neunziger Jahre hat Jananne Al-Ani (Kirkuk, Irak *1966) einen Werkkörper aus Video- und Fotoarbeiten geschaffen, der sich immer wieder um das Narrative, die Geschichte und das Geschichtenerzählen dreht und häufig westliche Darstellungsformen des Mittleren Ostens ins Visier nimmt. Regelmässig auftretende Akteurinnen in ihren Arbeiten sind ihre Mutter, ihre drei Schwestern und sie selbst. Dass die Frauen miteinander verwandt sind, wird nie explizit erwähnt, ihre auffallende Ähnlichkeit und eindeutige Vertrautheit jedoch sind ein wiederkehrendes Motiv in Al-Anis Werk. Als Reaktion auf die klischeehafte, exotische Frauendarstellung in der orientalistischen Fotografie und Malerei Ende des 19. Jahrhunderts verwendet die Künstlerin in ihren eigenen fotografischen Arbeiten das Bildmotiv des Schleiers, um westlichen Vorurteilen gegenüber der Gesellschaft des Mittleren Ostens zu begegnen. Indem sie die symbolische Verwendung des Schleiers untersucht, markiert sie diesen als eine Schnittstelle zwischen dem öffentlichen und privaten Raum; sie stellt das real Sichtbare der Welt der Fantasie gegenüber, die sich auftut, sobald etwas dem Blick verborgen ist. Auch die Art, wie Al-Ani den Betrachter ihrer Kunst mit der Wahrheit reizt, hat etwas von Verschleiern. A Loving Man (1996-1999) besteht aus mehreren in einem engen Kreis angeordneten Monitoren, auf denen ein offensichtlich intimes Gespräch über einen Mann mitanzuhören ist, den alle fünf Frauen gut zu kennen scheinen; doch die absichtlich allgemein gehaltenen Kommentare sind für das Publikum durchaus nachvollziehbar. Auf einem Wortspiel aufbauend, einer bereits bestehenden Struktur, geht es bei der Arbeit auch um die Idee der Kommunikation. Bei dieser wie auch bei der jüngeren Videoinstallation A Visit (2004) stört Al-Ani den Erzählfluss durch Überlagerung und Dramatisierung, wodurch die Wahrheit verschwimmt und ein komplexes Gefühl der Ambiguität entsteht, das Fakten und Fiktion verwischt, da nie das ganze Bild zu sehen ist. Ausserdem erzählt A Visit eindrucksvoll von den Schwierigkeiten familiärer Beziehungen und den Folgen des Krieges für die Menschen.
Tracey Moffatt (Brisbane *1960) schafft mit Hilfe von Skizzen, Storyboards, Akteuren und Ausstattungen sorgfältig konstruierte Filme und Fotoarbeiten, die vor dem persönlichen Hintergrund der Künstlerin als einer Halb-Aborigine mit weissen Adoptiveltern, das moderne Australien ergründen. Für ihre Arbeit, die auf Themen wie dem australischen Outback, Sportwettkämpfen oder den von kolonialen Eroberungen gefütterten Fantasien des Viktorianischen Zeitalters aufbaut, greift Moffatt auf einen riesigen Bestand an australischen Bildmotiven zurück. Dazu gehören die Einsamkeit des Hinterlands, die Schönheit und Langeweile der Wüste und das Uralte und gleichsam Brandneue, das der Mischung von Rassen und Kulturen inhärent ist. Moffatt nimmt ihre persönlichen Erfahrungen als Ausgangspunkt, spricht jedoch auch über die Geschichte anderer, und zeigt, dass die Sehnsucht nach einer Heimat – ein persönlicher Mythos, der immer wieder umgeschrieben und mit Fantasien und Fiktionen vermischt wird – von grösserer Bedeutung ist als die eigentliche Heimat. Auch wenn sich ihre Fotografien und Filme auf die Realität beziehen, so sind sie doch durch Kino- und Fernsehbilder gefiltert und vermittelt und repräsentieren somit unsere kollektive Geschichte oder die Geschichte der menschlichen Fantasie. Laudanum (1998), eine Serie von Fotogravüren, offenbart die Schattenseite von Moffatts Werk: Träume oder Visionen, angeblich hervorgerufen durch die Opiumtinktur, die der Arbeit ihren Namen gab, vermischt mit einer vagen Atmosphäre kolonialer Dekadenz, rufen alle Arten von Fantasien auf den Plan. In der jüngeren Fotoserie Adventure (2004) verwendet Moffatt grellbunte computergenerierte Hintergründe, vor denen Akteure in karikierten Rollen auftreten, um eine bruchstückhafte Geschichte über das moderne Australien zu erzählen.
Adriana Varejão (Rio de Janeiro *1964) betrachtet die Kolonialgeschichte Brasiliens in einem neuen Licht: Sie untersucht die sozialen Folgen der Kolonialisierung, die Aneignung künstlerischer Konventionen aus der „alten Welt“ und deren Vermischung mit indigenen Stilen sowie die Stellung brasilianischer Künstlerinnen und Künstler innerhalb dieses Erbes. Varejãos Gemälde aus den frühen neunziger Jahren zeigen naive Szenen kolonialer Unterdrückung, Abbildungen von abgeschlagenen Gliedmassen oder Trompe-l’oeil-Hintergründe aus portugiesischen Fliesen. Andere Arbeiten kombinieren barocke Ikonografie und Darstellungen des Martyriums mit Imitationen tätowierter Haut – eine Kulturpraktik, welche die Künstlerin mit dem Bedrucken von Leinwand in Verbindung bringt. Mitte der neunziger Jahre verlegte sich Varejão auf ein kunsthistorisches Zitat: Sie führte die Malerei aus der Fläche heraus und schuf „skulpturale Gemälde“, welche die Leinwand buchstäblich in den Raum des Betrachters erweiterten. Arbeiten wie Green Tilework in Live Flesh (2000) – hier wurde das fertige Gemälde aufgeschlitzt und die Schlitze mit Polyurethan gefüllt, das in Form und Farbe an Eingeweide erinnert – experimentieren mit der Vorstellung von Leinwand als körperlichem Gebilde. In ihrem jüngsten Werk, einer Reihe halbabstrakter Sauna-Gemälde, darunter Parede con Incisão a la Fontana (2002), hat Varejão die Leinwand wieder von ihrer Plastizität befreit. Die präzisen Darstellungen von Fliesenstrukturen verweisen weniger auf eine spezifisch brasilianische Vergangenheit als vielmehr auf eine allgemeine Geschichte von Orten der Folter. Die Vermählung von Figuration und Geometrie macht sie jedoch auch zu zeitlosen Umgebungen, welche die Illusion eines inneren Labyrinths erzeugen.
Richard Wentworth (Samoa *1947), eine Schlüsselfigur in der britischen Kunst, stellt mit seinen Plastiken die herkömmliche Auffassung von Bildhauerei in Frage. Das Material für seine Arbeiten findet Wentworth im Alltag – Gegenstände und Gedanken, die er in neue und überraschende Kontexte stellt. Ob er mit seiner Kamera Situationen aufspürt, die dem ungeübten Auge entgehen würden, oder gefundene Objekte wie Wörterbücher, Bonbonpapierchen, Bücher, Teller und Eimer kombiniert, verändert oder manipuliert – stets vermittelt Wentworth dem Betrachter ein neues Bewusstsein für das Alltägliche und eröffnet ihm unerwartete Perspektiven auf die tausend kleinen Gesten, die unsere Welt ausmachen. Wentworth interessiert sich für die Sozialgeschichte des Menschen, dafür, wie wir bestimmte Dinge – beispielsweise Sprache – als Schnittstelle zwischen uns und der Welt benutzen, um sie zu begreifen oder unsere „Duftmarke“ darauf zu hinterlassen. Indem er anstelle von Monumenten und weltbewegenden Ereignissen das Alltägliche, Nebensächliche und Unscheinbare ins Blickfeld rückt, schreibt Wentworth eine alternative Geschichte des menschlichen Bewusstseins. Sowohl die Installation False Ceiling (1995) als auch Twenty Seven Minutes, Twenty Two Nouns, Seven Adjectives (1999) – eine von mehreren Plastiken aus Wörterbüchern und Unrat von den Strassen Londons – erzählen davon, dass Wörter nichts anderes sind als ein weiteres Readymade, dessen Geschichte wir selbst mit jedem Sprechakt bereichern. Die keramische Bodeninstallation Spread (1997) bedient sich eines der grundlegendsten Elemente der Sozialgeschichte: Die Installation ist funktional und – durch die Ornamentierung – zugleich individualisiert; sie versinnbildlicht die Art und Weise, wie sich der Mensch die Welt immer wieder neu erschliesst, durch die Addition und Subtraktion von Bedeutung, ein ständiges Kommen und Gehen.
Kuratorin: Felicity Lunn